Personal Finance

Wirecard – von der Heldensaga zur Tragödie?

Wir verstehen die Welt durch Geschichten.

Klar, ein paar Basics erschließen wir uns direkt – wer als Kind auf eine heiße Herdplatte fasst und sich verbrennt, “begreift” den Zusammenhang und verinnerlicht ihn für die Zukunft. Und wir können die physische Welt im immer filigraneren Detail untersuchen, und daraus neue Erkenntnisse gewinnen. Aber zu große Komplexität überfordert uns. Wir müssen die Details wieder in einen übergeordneten Zusammenhang stellen. Dabei helfen uns Geschichten.

Was hat das mit Finanzen zu tun? Und mit Wirecard? Vielleicht mehr, als du denkst.

 

Wirtschaftswissenschaften sind keine Naturwissenschaften

Wirtschaftswissenschaftler bemühen sich seit über 100 Jahren darum, dass ihre Disziplin analog der Naturwissenschaften wahrgenommen wird. Ziemlich erfolgreich, wenn ich mir die heißen Diskussionen zur Anlage in Einzelaktien versus ETFs oder Ertrags- versus Wachstumsstrategien in den Kommentarbereichen der Finanzblogs anschaue. Tatsächlich gehört sie aber zu den Sozialwissenschaften (Fun Fact: der “Nobelpreis in Wirtschaftswissenschaften” ist eigentlich auch kein Nobelpreis, Alfred Nobel rotiert wahrscheinlich im Grab).

Das soll die Einsichten, die wir durch ökonomische Experimente und Modellierungen gewinnen können, nicht schmälern. Aber sie basieren nicht auf Naturgesetzen. Objektive Daten alleine liefern weder auf Seiten der Unternehmen, noch der Anleger eine verlässliche Basis für Prognosen, es gibt nicht das einzig richtige Ergebnis. Alle Akteure werden von subjektiven, psychologischen Elementen beeinflusst. Und hier kommen die Erzählungen ins Spiel, mit denen wir uns die Welt erklären.

 

Immer die gleichen Muster

Es gibt eine Riesenmenge an Geschichten. Aber nur eine überschaubare Zahl Erzählmuster, die immer wiederkehren. Inhaltlich kann man fünf Haupttypen definieren, die du garantiert wieder erkennst (meine Übersicht basiert auf dem Ansatz von Christopher Booker):

  • “Das Monster besiegen” – Die Helden dieser Geschichten müssen einen Gegner bezwingen, der sie oder ihr Umfeld (Menschen, Land) bedroht
  • “Die Suche nach…” – Die Helden, oft eine Gruppe, begeben sich auf die Suche nach einem Objekt oder einem Ort, und müssen dabei Hindernisse überwinden und Abenteuer bestehen
  • “Reise und Rückkehr “ – Die Helden treten eine Reise ins Unbekannte an, und kehren mit neuen Erkenntnissen zurück
  • “Die Wiedergeburt” – Diese Geschichten beschreiben die Verwandlung der Hauptfiguren, oft zu einem besseren Ich
  • “Vom Tellerwäscher zum Millionär” – Die Helden der Geschichte starten arm, und gelangen zu Wohlstand, heiraten einen Prinzen etc.

Wissenschaftler diskutieren aktuell, ob diese “Archetypen” von Erzählungen einen evolutionsbiologischen Hintergrund haben. Aber auch wenn das nicht so sein sollte; jeder, der in unserer Gesellschaft aufwächst, ist mit den Mustern sozialisiert: Sie tauchen in der griechischen Mythologie auf, in der Bibel, in Märchen, in Hollywood-Filmen, in Werbespots.

Und ich denke, dass wir diese Muster so verinnerlicht haben, dass sie uns auch bei unseren Anlageentscheidungen beeinflussen können. Das führt möglicherweise dazu, dass wir eigentlich offensichtliche Risiken nicht ernst genug nehmen.

 

Die Helden-Falle

Anlagegeschichten sind Helden-Geschichten, zumindest wenn wir Stock-Picking betreiben. Und zwar auf zwei Ebenen. Wenn wir auf Einzelaktien setzen, suchen wir nach “Helden-Unternehmen”. Den Unternehmen, die die Wettbewerber besiegen, zur Marktführerschaft aufsteigen, oder eine ganz neue Branche kreieren. Oft erhöhen die Gründer mit ihre eigenen “Helden-Story” das Identifikationspotential noch – wie Jeff Bezos oder Elon Musk, aber auch Warren Buffett.

Wenn wir die Aktien solch eines Unternehmen kaufen, werden wir Teil der Helden-Geschichte – genau der gleiche Effekt, den sich Unternehmen beim Marketing ihrer Produkte zunutze machen. Zusätzlich fungieren die entsprechenden Aktien auch als reales Mittel zum Zweck unserer eigenen Heldengeschichte, denn sie könnten unser Ticket für eine “Rags to Riches” Story sein. Und schon sind wir nicht nur formal, sondern auch psychologisch tief in unser Heldenunternehmen investiert.

 

Die neue deutsche Helden-Saga?

Wirecard ist für mich ein perfektes Beispiel für so eine Heldengeschichte. Und für Mechaniken, die sich gut über unsere Verinnerlichung von Story-Mustern erklären lassen – leider nicht nur bei Anlegern. Denn bei Wirecard überschneiden sich gleich mehrere “Helden”-Motive: das kleine Unternehmen, das es unter der Führung seines CEOs in den DAX geschafft hat. Der deutsche Player, der uns Hoffnung gibt, doch noch eine Chance gegen die Tech-Überlegenheit aus dem Silicon Valley zu haben. Eine Mannschaft, die mit ihrem Geschäftsmodell neue, unbegrenzte Weiten erschließen will.

Wenn so viele Kriterien für eine Erfolgsgeschichte erfüllt scheinen, denken wir zu leicht in diesem Muster weiter. Und glauben zu lange daran, dass alles gut gehen muss. Dabei übersehen wir vielleicht, dass die Handlung längst in ein ein anderes Ur-Muster gekippt ist, die Tragödie. In der die Schwierigkeiten und Konflikte der Helden nicht aufgelöst werden, und die ein unglückliches Ende nimmt. Wir sind mental sozusagen im falschen Film.

 

Wer sind die Guten, wer die Bösen?

Und ordnen kritische Stimmen entsprechend ein: die bösen Shortseller, die gegen einen deutschen Champion spekulieren. Journalisten, die sich offenbar mit den Shortsellern verbündet haben. Andere Anleger, die einfach nicht verstehen, dass das alles eine Verschwörung gegen “unsere” Wirecard ist.

Vielleicht gar nicht mehr so verwunderlich, dass Akteure der Bafin glaubten genau zu wissen, wer in dieser Geschichte die Bösen sind. Und Wirecard Anfang 2019 erst mit einem Shortselling-Verbot, dann mit Strafanzeigen gegen die Financial Times-Journalisten Dan McCrum und Stefania Palma zu Hilfe eilte. Nichtsdestotrotz ein fatales Zeichen für eine Behörde, die am Finanzmarkt tätige Unternehmen kontrollieren soll.

Spätestens ab Oktober 2019 gab es auch genug öffentlich zugängliches Material, um zumindest ein großes Fragezeichen an die Wirecard Helden-Saga zu machen. Doch bei zwei bedeutenden deutschen Fondsgesellschaften scheint es eher einen “jetzt-erst-recht”-Effekt gegeben zu haben. Ich halte ja meine alte fondsbasierte Rentenversicherung noch. Die Sparraten laufen in ein DWS-Produkt (und nein, natürlich würde ich das heute so nicht mehr abschließen 🙂 ). Im Portfolio war bis vorgestern Wirecard zum letzten Monatsende noch mit einer Position von 4% aufgelistet, vorher war es sogar deutlich mehr. Bei der Union Investment sah es offenbar ähnlich aus. Nachdem das Kind in den Brunnen gefallen ist, prüfen jetzt beide Gesellschaften Klagen. Das Muster kommt mir auch bekannt vor: Stupid German Money, anyone?

 

Die Geschichte ist noch nicht zu Ende

Vorgestern Abend wurde die Wirecard-Aktie im Tief unter 13 Euro gehandelt. Gestern Mittag stand sie bei über 18 Euro. Gerade hat die Bank of America ein Kursziel von 1 Euro ausgegeben.

CEO Markus Braun wurde von der Staatsanwaltschaft München festgenommen und will nach Angaben der Ermittler kooperieren. Inzwischen wurde er auf Kaution frei gelassen. 1,9 Milliarden aus der Bilanz bleiben verschwunden. Der Treuhänder in Asien weist jede Verantwortung von sich. Die früheren Testate von Ernst & Young scheinen bis jetzt nicht in die Optik gerückt zu sein – doch die Financial Times begleitete Wirecards Accounting Praktiken schon vor 2019 kritisch, die KPMG-Sonderprüfung konnte dies nicht positiv klären.

Wir sind also noch mittendrin. Wie die Geschichte ausgeht, weiß man erst am Ende, egal wie bekannt sie einem vorkommt. Vielleicht ist die Wirecard-Story ein Thriller, und wir haben uns zu unserer eigenen Überraschung mit den Bösen identifiziert – oder es stellt sich heraus, dass die Guten doch die Guten waren, und wir die Bösen noch gar nicht kennen. Vielleicht endet sie als “Rebirth”-Erzählung, wie die von Florian Homm und Thomas Middelhoff. Oder “Deutschlands größter Bilanzskandal” entpuppt sich einfach nur als schäbiger kleiner Groschenroman, dessen Helden mehr schienen als sie waren.

Egal wie die Geschichte zu Ende geht: Für die meisten Anleger, die in die Wirecard-Story investiert haben, wird sie eine Tragödie bleiben.

 

Katrin / Financial Independence Rocks!

Update 25.06., 10:52 Uhr: Wirecard hat einen Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens gestellt. Definitiv also ein trauriges, und – zumindest für die Zocker, die in den letzten Tagen explizit auf die Aussetzung der Insolvenzantragspflicht bis September gesetzt haben – überraschend schnelles Ende.

 

 

 

 

 

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2 Comments

  • Reply
    Stephan P
    June 25, 2020 at 10:28 am

    Hallo Katrin,
    Das ist eine lesenswerte Analyse und eine, wie ich finde, gute Zusammenfassung aus Investorensicht. Ich selbst war seinerzeit bei Enron dabei und habe da alles falsch gemacht was man falsch machen kann. Immerhin kann ich jetzt wirecard nur als interessierter Zaungast verfolgen. Die Rolle der Bafin als Beschützer von wirecard fand ich damals (Leerverkaufssperre) schon etwas fragwürdig, aber gut deren Job ist auch nicht so einfach.
    Somit halte ich für mich fest: Vorsichtig sein und sich nicht gefühlsmäßig in etwas hineinziehen lassen sondern einen möglichst objektiven Abstand bewahren. Das ist leider leichter gesagt als getan.

    • Reply
      Financial Independence Rocks!
      June 25, 2020 at 10:49 am

      Hallo Stephan,

      vielen Dank für das Lob! Ich tippe mal, dass die meisten langjährigen Anleger solche Fehler gemacht haben, ich bei meinen allerersten Aktienkäufen im Neuen Markt. Da waren wir sogar ganz nah an den Playern dran, und haben die Realität trotzdem nicht erkannt (oder sehen wollen).

      Aber ich habe auch schon die umgekehrte Situation erlebt, in der kritische Accounting-Daten öffentlich waren, es auch Short-Selling-Rumpler gab, aber der Markt das dann einfach abgeschüttelt und weiter gemacht hat. Es gibt eben auch Eigen-Interessen bei Banken und Analysten, dass Kurse der Unternehmen im Research nicht dauerhaft zusammenbrechen. Kann für Investoren also auch gut gehen, aber man muss sich immer wieder klar machen, dass einer großen Chance auch ein großes Risiko gegenübersteht – und wenn man seine Positionsgröße nicht darauf anpasst, kann das natürlich auch richtig weh tun.

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