Klar, die Idee “Rente mit 40” ist plakativ. Und hat auch in Deutschland für einiges Medienecho rund um Vermögensaufbau und Einkommensquellen jenseits vom Angestelltenjob gesorgt. Das finde ich gut. Wir sind in dieser Hinsicht immer noch ein Entwicklungsland. Und je mehr Leute sich schon möglichst früh in ihrer beruflichen Laufbahn mit dem Thema auseinandersetzen, desto besser.
Aber es ist natürlich nicht das gemeint, was wir klassischerweise mit “Rente” assoziieren: den kompletten Ausstieg aus der beruflichen Tätigkeit – verbunden mit der Lebensphase ab 65+, in der die staatliche Rente gezahlt wird. Und das sorgt für Missverständnisse.
Rentner mit 40? Wirklich?
Nicht ganz so medienwirksam könnten Anhänger der FIRE-Bewegung, die wirklich komplett aus dem Berufsleben aussteigen wollen, auch sagen, dass sie das Ziel haben, als “Rentier” zu leben. Oder als “Privatier”: jemand, der nicht mehr auf eine berufliche Tätigkeit angewiesen ist, um seinen Lebensunterhalt zu bestreiten. Obwohl das Label bei uns leider eher negativ besetzt ist, finde ich es eigentlich ganz cool. Es drückt perfekt aus, dass jemand sich finanziell unabhängig seinen Interessen widmen kann – ohne sofort einen Altersstempel mitzuliefern.
Denn das ist gar nicht so unwichtig, wenn man tatsächlich am Ziel angekommen ist. Wahrscheinlich wollen die wenigsten, die vor dem Rentenalter eine finanzielle Unabhängigkeit erreichen, als “Rentner” wahrgenommen werden. Ich könnte mich damit jedenfalls überhaupt nicht identifizieren. Vielleicht ging es Peter Ranning auch so, schließlich hat er seinen Blog nicht “Der Rentner” genannt, sondern “Der Privatier” – obwohl er über den “freiwilligen Ruhestand mit 56” schreibt. Und auch Christian von Bergfahrten, der von seinen Vermögenseinkünften lebt, hat im Gespräch mit dem Finanzrocker gesagt, dass er sich auf Nachfragen, was er jetzt denn so macht, explizit nicht als Rentner bezeichnet.
Ein zweischneidiges Schwert
In jedem Fall ist die plakative Formulierung ein zweischneidiges Schwert: “Rente mit 40” schafft zwar Aufmerksamkeit, hört sich aber für viele so abgedreht an, dass sie damit das Thema finanzielle Unabhängigkeit gleich mit als unerreichbar abhaken. Das ist nicht hilfreich.
Außerdem habe ich den Eindruck, dass einige Anhänger des “Kults” – wie Mr Money Moustache selbst die Bewegung bezeichnet – sich mit einer Zielsetzung von 40, oder in den USA noch krasser, 30 Jahren für das Erreichen ihrer “FIRE-Zahl” zu sehr unter Druck setzen. Wir reden dann über 10 bis 15 Jahre Vermögensaufbau. Das kann zu Sparraten führen, die wenig Spaß am aktuellen Leben erlauben. Oder auch zu unrealistisch niedrigen Vermögenszielen, die ein hohes Risiko für die Entsparphase bergen.
Warum nicht stattdessen mit 20 bis 25 Jahren Aufbauphase planen und auch den Weg zum Ziel genießen? Das ist gegenüber dem normalen Rentenalter immer noch ein absoluter Luxus. Und wenn ich sowieso weiter für Geld arbeiten will – was praktisch alle FIRE-Blogger in irgendeiner Form tun – dann kann ich das doch auch etwas länger in einem Angestelltenjob tun, der Vorteile wie Sozialversicherung und bezahlten Urlaub bietet? Über den längeren Zeitraum wirkt sich beim Vermögensaufbau außerdem der Zinseszinseffekt deutlich stärker aus.
Sei ehrlich zu dir selbst
Einen Job, der mir nicht gefällt, kann ich trotzdem wechseln – normalerweise ist das sogar leichter aus einem festen Angestelltenverhältnis heraus. Oder meine Stunden reduzieren, wenn ich mehr Zeit für andere Interessen haben möchte. Bei einer selbständigen Tätigkeit hat man zwar keinen Chef mehr, Kunden können aber genauso anstrengend sein 😉 . Wer wirklich leidenschaftlicher Unternehmertyp ist, wird es wahrscheinlich sowieso keine 10 Jahre in einem Angestelltenjob aushalten. Als Angestellter würde ich der Turbo-Variante “Rente mit 40” aber zumindest mal einen etwas langsameren Weg gegenüberstellen – und die finanziellen und Lebensstil-Implikationen ehrlich miteinander vergleichen.
Wie gesagt, auch wenn sie die Rente mit 30 oder 40 promoten: Praktisch keiner der bekannten US-FIRE-Blogger, die “retired” sind, lebt nur von passiven Vermögenserträgen. Viele monetarisieren ihre Blogs, traden Optionen, oder setzen andere Projekte um, mit denen sie Geld verdienen. (Das sollte man sich auch immer in Erinnerung rufen, wenn es um die 4%-Entnahmeregel geht. Denn auch hier rechnen die FIRE-Blogger, die ich kenne, für das eigene Vermögen eher konservativer).
Vermögensaufbau für alle
Insofern ist die Kritik, dass FIRE oder die “Rente mit 40” Mogelpackungen sind, und die Protagonisten in Wirklichkeit einfach nur selbständig statt angestellt arbeiten, nicht ganz unberechtigt. Aber sie greift zu kurz: denn es ist natürlich ein riesengroßer Vorteil für das Ausprobieren von neuen Projekten, wenn die wichtigen Lebenshaltungskosten abgesichert sind. Die “Rente mit 40” ist in den meisten Fällen also eher ein selbst erarbeitetes Teil- oder Grundeinkommen. Dann kann man sie aber auch gleich “Finanzielle Unabhängigkeit” nennen.
Denn das ist eine Idee, die viele Menschen in Deutschland interessieren sollte: Jede Fixkosten-Position, die aus Vermögenserträgen bezahlt werden kann, gibt größere Unabhängigkeit vom Arbeitseinkommen. Und später von der gesetzlichen Rente, die zu niedrig ausfallen wird, um alleine den gewohnten Lebensstandard zu erhalten.
Deshalb wünsche ich mir, dass es nicht nur plakative Themen wie “Rente mit 40” ab und zu in die Medien schaffen, sondern dass Verantwortung für die persönlichen Finanzen an viel mehr Stellen in Deutschland öffentlich thematisiert wird. Die Voraussetzungen für eine Demokratisierung von Vermögensaufbau sind mit Discount-Brokern, kostengünstigen ETFs und dem frei auf Blogs und in Podcasts verfügbaren Finanzwissen jedenfalls so gut wie nie zuvor. Und selbst das DIW, das wahrscheinlich nicht des Neo-Liberalismus verdächtig ist, hat in einer aktuellen Studie festgestellt, dass bessere Möglichkeiten zum Vermögensaufbau der Menschen in der unteren Hälfte der Vermögensverteilung das beste Mittel wären, um der Vermögenspolarisierung in Deutschland entgegen zu wirken. (Über den Vorschlag zur Umsetzung lässt sich streiten).
Es gibt also Hoffnung 🙂 .
Katrin / Financial Independence Rocks!
4 Comments
Bergfahrten
July 23, 2020 at 9:00 amHallo Katrin,
das ist ein sehr guter Beitrag und du hast es super und kompakt zusammengefasst! Danke auch für den Link!
Ergänzend wäre zu erwähnen dass ein “Wertpapierdepot” nicht unbedingt die finanzielle Unabhängigkeit vermitteln oder das als Ziel sein muss. Ab einer gewissen Grenze bringt es aber Selbstvertrauen und Sicherheit vor Jobverlust, Krankheiten, familiären Belastungen dagegen einen “größeren Notgroschen” zu haben.
Das Geld an und für sich hilft einem zwar nicht Probleme zu vermeiden – aber es erspart einem zu den persönlichen Schwierigkeiten auch noch finanzielle Kredite und Lasten dazu packen zu müssen.
Einen schönen Sommer ☀️
Viele Grüße
Christian / Bergfahrten
Financial Independence Rocks!
July 23, 2020 at 9:58 amHallo Christian,
vielen Dank für Deinen positiven Kommentar und die Ergänzung. Sehe ich genauso. Deshalb finde ich es auch so schade, wenn Menschen Sparen und Vermögensaufbau mit “reich werden” gleich setzen, für sich die Schlussfolgerung ziehen, dass sie das sowieso nicht erreichen können, und dann das Thema gar nicht weiter verfolgen. Dabei ist der relative Unterschied, den ein “größerer Notgroschen” bei niedrigem Verdienst machen kann, viel bedeutender, als bei jemandem mit hohem Einkommen.
Einen sonnigen Tag und liebe Grüße
Katrin
Petya
September 14, 2020 at 9:56 pmHallo Katrin,
ich bin vor ein paar Tagen auf deinen Blog gestoßen und lese mich durch fast alle Beiträge durch. Finde es schön, wie authentisch du die Themen behandelst und wie offen du über dein eigenes Leben berichtest. Und ich muss dir auch recht geben, dass es viel zu schade ist, wenn die Leute sich auf “Alles oder nichts” fokussieren. Ich habe viel über die FI Idee nachgedacht und zu dem Schluss gekommen, dass es für mich nicht sooo interessant ist, dass ich mein komplettes Leben darauf ausrichten würde. Aber Vermögen aufbauen, mich finanziell sicherer fühlen und dadurch entspannter leben bzw entspannt meinen Job kündigen können, wenn er nicht mehr Spaß macht, mit dem Wissen, dass das nicht sofort eine Katastrophe für mich und meine Familie bedeuten würde – ja, das finde ich super. Und darüber lerne ich hier bei dir gerade viel. Also danke für deine Beiträge!
Liebe Grüße
Petya
Financial Independence Rocks!
September 15, 2020 at 1:44 pmHallo Petya,
vielen Dank, dass du dir die Zeit genommen hast, zu kommentieren. Freut mich natürlich sehr, wenn du aus meinen Posts etwas für dich mitnehmen kannst!
Es hört sich an, als ob du dir richtig gründlich Gedanken darüber gemacht hast, wie ein gutes Leben für dich aussieht. Das finde ich klasse! Und kommt mir in unserer Community manchmal noch zu kurz, selbst auf meinem eigenen Blog. Deshalb freue ich mich um so mehr, wenn auch Menschen wie du dabei sind, für die der qualitative Teil von finanzieller Unabhängigkeit mindestens genauso wichtig ist wie der quantitative. Und lass mich gerne wissen, wenn es Themen gibt, die dir auf meiner Website noch fehlen – ich freu mich immer über Anregungen.
Liebe Grüße
Katrin