Oh, oh, oh, ich glaube, ich muss aufpassen, dass ich nicht zum Finanzjunkie werde. Oder vielleicht richtiger: zum Kosten- und Investitions-Optimierungs-Junkie.
Was ist passiert?
Eigentlich gar nichts Gravierendes. Aber das erste Jahr meines Master-Studiums ist vorbei, und ich habe einen halben Tag mehr Zeit, mich mit anderen Dingen zu beschäftigen. Und es macht nichts mehr aus, wenn ich mich zwischendurch ablenken lasse. Zum Beispiel, um nur mal kurz auf mein Excel-Spreadsheet zu schauen, in dem ich einen Überblick über unsere Ausgaben und Einnahmen und unsere Assets und Verbindlichkeiten pflege.
Auf dem Sheet gibt’s ja nichts Neues zu sehen, außer ich ändere etwas.
Aber ich könnte doch noch mal überlegen, ob es eine Budgetposition gibt, die ich optimieren kann.
Und wo ich grad schon schaue: was war eigentlich der Kurs, bei dem ich nachkaufen wollte?
Ich geh mal eben ins Depot – wo steht der Kurs jetzt gerade? Bei der aktuellen Volatilität könnte es ja heute eine bessere Kaufgelegenheit geben als gestern.
Aber eigentlich finde ich die Märkte schon wieder zu hoch bewertet. Ist doch absurd: wir sind in den USA praktisch wieder da, wo wir vor Corona waren. Und da fanden die meisten die Bewertungen nicht mehr günstig. Jetzt haben wir die Wirtschaft über Wochen lahmgelegt, mit noch nicht wirklich absehbaren Domino-Effekten, aber alles scheint mega-tutti – weil Politiker weltweit alle Schleusen geöffnet haben. Aber was passiert, wenn die Aktienpreise nur die Angst vor Inflation widerspiegeln? Die dann vielleicht gar nicht in der Breite kommt, weil die Geldschwemme nur die Kaufkraft ausgleicht, die durch die Corona-Lockdowns vernichtet wurde? …
Ich hatte mir doch überlegt, kein Market-Timing mehr zu machen.
Auf der anderen Seite: Bis jetzt bin ich ja gut damit gefahren, immer bei Rücksetzern zu kaufen.
Aber macht das langfristig wirklich einen Unterschied? Es gibt genug Research, der zeigt, dass Anleger in den meisten Fällen über lange Anlagezeiträume den höchsten Return damit erzielen, zur Investition vorgesehene Mittel sofort zu investieren – Time in the market beats timing the market. …
Und ich hatte mir doch extra eine Ertrags-Schwelle gesetzt, ab der ich unsere Sparrate nur noch in einen breiten All-world Index investiere.
Aber der Index schwankt aktuell ja auch so stark. …
Wenn es noch mal eine zweite Corona-Welle gibt, oder die Unruhen in den USA eskalieren, dann crasht es vielleicht noch mal richtig? Und was ist mit den Wahlen in den USA? Oder bei einem harten Brexit am Jahresende? Dann ärgere ich mich, dass ich nicht gewartet habe. …
Vielleicht wäre es doch besser, die Liquidität auf dem Depotkonto in eine Sondertilgung für unsere Wohnung zu stecken, die an das Hotel verpachtet ist? Wer weiß, wie sich der Sommer entwickelt. Wenn wir bei dem Vertrag die Sondertilgungsoptionen nutzen, ist der Kredit in gut einem Jahr getilgt.
Aber ich hatte mich doch entschieden, dass wir keine Sondertilgungen machen, weil ich mit Aktien einen deutlich höheren Return erziele, als uns der Kredit kostet. Und wenn wir die Wohnung zur Eigennutzung verkaufen wollten, könnten wir den Kredit in jedem Fall ablösen. …
IST DOCH IRRE!
Wenn mich jemand nach einer Empfehlung fragt, wie sie oder er am besten in den Aktienmarkt investieren sollte, um sich langfristig ein arbeitsunabhängiges Einkommen aufzubauen, schlage ich immer das gleiche vor: eine simple ETF-Strategie. Je nach Alter, Anlageziel und Lust, sich mit Rebalancing zu beschäftigen, schon mit nur einem ETF umsetzbar. Eine Sparrate festzulegen, und für diese Sparrate regelmäßig ETF-Anteile nachzukaufen. Und unerwartete zusätzliche Liquidität je nach Disposition entweder sofort anzulegen – weil das in der Regel den höchsten Return bringt, siehe oben – oder in einigen Tranchen, wenn man damit besser schlafen kann.
Wer sich für Finanzen interessiert und freiwillig Spreadsheets anlegt, ist wahrscheinlich anfälliger für diese Art von Kontroll- und Optimierungswahn. Für andere ist es vielleicht Social Media. In jedem Fall steht der Aufwand nicht im Verhältnis zum Nutzen. (Oh nein, schon wieder ein Optimierungsgedanke). Besser: es ist kein Zugewinn an Lebensqualität. Und mit ziemlich hoher Wahrscheinlichkeit auch kein Plus an Investment-Return.
Das muss aufhören.
HEUTE.
Katrin / Financial Independence Rocks!
6 Comments
Thomas
June 11, 2020 at 11:34 amIns Schwarze getroffen! Ich finde mich in der Beschreibung wieder und kann dein Fazit grundsätzlich unterstützen.
Meine Lösung für das „Problem“ (das Basteln und Überlegen macht ja oft auch Spaß) ist, dass ich zwei Strategien verfolge:
(1) Regelmäßige Nachkäufe werden über die „Schnäppchenjagd“ aus dem Wertpapierforum getätigt (nach Holzmeier).
(2) Die TG-Quote in Abhängigkeit vom relativen Stand des MSCI AC World IMI zum langjährigen Mittel festgelegt.
Damit habe ich bisher gute Erfahrungen gesammelt und mein Bedürfnis nach Optimierung im Griff 🙂
Financial Independence Rocks!
June 11, 2020 at 11:57 amHallo Thomas,
Du führst mich in Versuchung… ;-). Danke für’s Kommentieren und Teilen Deiner Strategie!
Bergfahrten
June 12, 2020 at 6:29 amHallo Katrin,
willkommen im Club der Hobby-Investoren
Du hast recht und trifft auf viele Anleger zu! Aber zu viele Überlegungen betreffen die Zukunft die man nicht kennt. Das halte ich daher für sinnloses grübeln!
Auf der anderen Seite sollte man für seine Investments keine schnellen emotionalen Entscheidungen aus dem Gefühl machen.
Das sinnloseste sind aber das “hätte / wäre/ könnte” – also bejammern oder bejubeln von Entscheidungen der Vergangenheit die sich aktuell nun anders bewerten lassen.
Persönlich versuche ich diese “Gefühlsschwankungen” zu vermeiden. Wenn es mir zu riskant ist sage ich nein. Ist es finanziell sinnvoll mache ich es gleich. Betrifft es eine finanziell langfristige Entscheidung schlafe ich 2-3 Nächte darüber.
Sonst hilft immer noch Arbeit im Garten oder Sport als Ablenkung
Liebe Grüße
Christian / Bergfahrten
Financial Independence Rocks!
June 12, 2020 at 11:09 amHallo Christian,
aber ist schon erstaunlich, dass es so schwer ist, die Emotionen rauszubekommen. Bei mir war es glücklicherweise nie so, dass ich bei fallenden Kursen verkaufen wollte. Im Gegenteil, ich bin ja bekennender Fan der “Der-Gewinn-liegt-im-Einkauf-Philosophie”. Das war überwiegend sehr hilfreich. An der einen oder anderen Stelle hat es aber auch dazu geführt, dass ich Positionen, von denen ich nicht mehr wirklich überzeugt war, zu lange gehalten habe. Da war der Benefit vom hin und her überlegen diesmal zumindest eine schnellere und konsequentere Entscheidung.
Deine Gelassenheit verfolge ich in den Posts mit Bewunderung, da schneide ich mir gerne eine Scheibe von ab!
Liebe Grüße nach Österreich
Katrin
Jenni
November 12, 2020 at 10:57 pmIch würde sagen, Selbsterkenntnis ist der erste Schritt zur Besserung? 😉
Tatsächlich ist für mich investieren tatsächlich kein Hobby, sondern eher eine nicht-allzu-lästige Pflicht. Meine Freizeit verbringe ich dann deutlich lieber mit anderen Dingen, z.B. Bloggen. Vielleicht ist Ablenkung auch eine Option für dich?
Financial Independence Rocks!
November 15, 2020 at 2:43 pmHallo Jenni,
ich hab ja so viel Zeit zum selbst gestalten zur Verfügung, dass für’s Beschäftigen mit dem Investieren immer noch genug abfällt. Aber keine Sorge, der Post war extra etwas pointiert geschrieben. Und nachdem mein Studium wieder angefangen hat, ist auf jeden Fall genug Ablenkung da 🙂 .