Meine letzten Posts waren ja alle aus dem Bereich Personal Finance. Deshalb gibt es heute mal wieder ein paar Gedanken zum Guten Leben. Und zwar geht es um ein Phänomen, das der Philosoph Alain de Botton “Statusangst” nennt. Gemeint sind Ängste rund um unseren Status, also unsere Stellung in der Gesellschaft.
Alain de Botton hat sich im gleichnamigen Buch mit diesem Thema auseinandergesetzt. Ich bin über Robert Wringhams Escape Everything, über das ich hier für dich geschrieben habe, auf seine Ausarbeitung gestossen. Fand ich interessant, denn genau diese Ängste halten viele davon ab, einen Teil ihres Einkommens in den unsichtbaren Aufbau von finanzieller Unabhängigkeit zu investieren, statt in die sichtbaren Symbole ihres Erfolgs in der Gesellschaft.
Und grandioserweise kam mir wieder mein 20-Euro-pro-Jahr Zugriff auf unsere Staats- und Universitätsbibliothek zugute. Die hatte Statusangst nämlich im Ausleihbestand. Kurz zum Autor: Alain de Botton ist ein britisch-schweizerischer Schriftsteller und Filmproduzent, der zu gesellschaftspolitischen Themen arbeitet. Er hat Geschichte und Philosophie studiert und lebt in London, wo er die School of Life gegründet hat.
Unsere Stellung in der Gesellschaft
Worum geht es in Statusangst genau? Alain Botton definiert zuerst einmal den Begriff Status. Es gab in menschlichen Gesellschaften immer herausgehobene Gruppen, wie zum Beispiel Krieger, Priester, oder den Adel. Seit der amerikanischen Revolution Ende des 18. Jahrhunderts wird der gesellschaftliche Status einer Person in der westlichen Welt laut de Botton zunehmend mit ihrem finanziellen Status verknüpft.
Dem würde ich grundsätzlich zustimmen, wobei diese Entwicklung nach meinem Eindruck in den USA tatsächlich auch am weitesten fortgeschritten, und inzwischen tief im politischen und rechtlichen System verankert ist. Allseits bekannt sind ja die privat finanzierten Kampagnen zur Präsidentschaftswahl. Aber auch lokale Sheriffs, Direktoren der Schulaufsichtsbehörde oder Richter werden direkt von der Bevölkerung gewählt. Die Finanzierung ihrer Kampagnen läuft natürlich in einer ganz anderen Größenordnung ab, aber nach demselben Prinzip.
Das Streben nach Status muss nicht per se negativ sein. Es kann Motivator sein, besondere Leistungen zu erbringen. Als Bestandteil eines gemeinsamen Wertesystems trägt es zum Zusammenhalt einer Gesellschaft bei. Wie auch sonst im Leben: die Dosis macht das Gift.
Was denken die Nachbarn?
Und da wir Menschen soziale Wesen und evolutionär-emotional auf die Gruppe angewiesen sind, kann der eigene Status leider auch mit Unsicherheiten und Ängsten assoziiert sein. Werden wir von den anderen angemessen wahrgenommen? Ist unser Status hoch genug? Oder noch schlimmer: drohen wir unseren Status zu verlieren?
Das Phänomen des Konsums, um “mit den Joneses mitzuhalten”, von dem sich Frugalismus-Verfechter wie Pete Adeny, besser bekannt als MrMoneyMustache, lossagen, wird aus genau solchen Ängsten gespeist: der Soziologe und Ökonom Thorstein Veblen prägte hierfür schon 1899 in The Theory of the Leisure Class (“Die Theorie der feinen Leute”) den Begriff “conspicuous consumption”, auf deutsch übersetzt “Geltungs-” oder “demonstrativer Konsum”.
Eine Real-life-Begebenheit hierzu, die sich in mein Hirn eingebrannt hat: Einer meiner ehemaligen Chefs sagte in einem Gespräch über verschiedene Automarken voller Inbrunst: “Also, ich würde mir niemals ein französisches Auto kaufen – wenn ich damit bei mir zuhause vorfahre, denken meine Nachbarn doch, ich hab’ meinen Job verloren.” Das war ganz klar seine ehrliche Einschätzung, und ein grandioses Beispiel für Statusangst.
Unglücklich war in diesem Zusammenhang nur, dass das Gespräch anlässlich eines eleganten Drei-Gänge-Mittagessens mit Weinbegleitung im Casino eines großen französischen Autokonzerns stattfand, zu dem wir freundlicherweise nach dem formalen Teil eines Gesprächs über eine mögliche Zusammenarbeit eingeladen waren… nun ja. Interessanterweise hat aber genau dieser Ex-Chef später beschlossen, dass er keinen neuen Job mehr annehmen würde, nur um sich seinen privaten Porsche weiter leisten zu können. Geht doch 😉 .
Die Ursachen von Statusangst
Im ersten Teil von Statusangst beschäftigt sich Alain de Botton mit den fünf Ursachen, die er für unsere Statusangst ausmacht:
1. Mangel an Liebe
Hier geht es um das Grundbedürfnis von Menschen “geliebt” zu werden. Und zwar im Sinne des von anderen wahrgenommen und anerkannt Werdens. Diese Form der eigenen “Wertbestätigung” kann per Definition nicht aus dem Individuum selbst kommen, sie funktioniert nur in der Spiegelung durch andere.
2. Snobismus
Das führt direkt zur zweiten Ursache, die de Botton für Statusangst sieht. Je höher unser Status, desto mehr Aufmerksamkeit und positives Feed-back bekommen wir durch andere. Dies kann man perfekt am Beispiel des Snobismus festmachen, der nach Status und damit verbundener Macht diskriminiert. Wer nicht dazugehört, ist gesellschaftlich raus.
3. Gestiegene Erwartungen
Je weiter die demokratische Gleichberechtigung fortschritt, desto stärker stiegen auch die Erwartungen der unteren gesellschaftlichen Schichten, die ihren Status vorher als “gottgegeben” betrachtet hatten. Und damit die Tendenz zum Vergleich untereinander, zu Neid, und zu enttäuschten Aufstiegserwartungen.
4. Das Leistungsprinzip
Solange der Status angeboren und im Weltbild verankert war, war auch ein niedriger sozialer Status keine Schande. In einer “Jeder ist seines Glückes Schmied”-Gesellschaft steigt der eigene und der gesellschaftliche Druck seinen Status zu verbessern (oder zumindest zu erhalten).
5. Abhängigkeiten von externen Faktoren
In heutigen westlichen Gesellschaften mag es einfacher geworden sein, einen höheren Status zu erringen. Aber man kann ihn auch leichter wieder verlieren. Der Erhalt des Status ist nicht nur von einem selber abhängig, sondern auch von wirtschaftlichen Rahmenbedingungen, Arbeitgebern, oder einfach Glück.
Mögliche Lösungen
Im zweiten Teil des Buches zeigt Alain de Botton verschiedene Lösungsansätze auf, um unsere Statusangst zu bekämpfen. Er argumentiert aus fünf kulturellen Konzepten heraus. Und zwar der Philosophie, der Kunst, der Politik, der Religion und der Bohème. Um beim Beispiel der Bohème zu bleiben, die mir persönlich sehr sympathisch ist: Wer sich als Bohèmien fühlt, wird sich als Vorbild und Gesellschaft nicht jemanden suchen wie Donald Trump. Und sein Selbstwertgefühl damit auch weniger abhängig von einer Mehrheitsmeinung machen, die gesellschaftliche Anerkennung an finanziellem Erfolg bemisst, und an “demonstrativen” Statussymbolen festmacht.
Ein Gedanke hierzu, den ich wichtig finde: Wir sollten uns nicht der Illusion hinzugeben, dass das Thema Status und Statussymbole verschwindet, nur weil wir nicht die Messlatte des Mainstreams ansetzen. Und ja, damit verschwinden leider auch Statusängste nicht vollkommen. Da können wir uns übrigens schön an die eigene Nase fassen, denn die FIRE-Community ist ein gutes Beispiel hierfür.
Ist meine Sparrate hoch genug? Bin ich schon ein Konsum-Clown, wenn ich mir keinen Gebrauchtwagen kaufen mag, weil ich Angst vor ungeplanten Reparaturkosten habe? Und gehöre ich überhaupt “dazu”, wenn ich nicht schon mit 30 verkünde, dass ich jetzt “early retired” bin (und lieber nicht erwähne, dass ich über meine(n) Partner(in) krankenversichert bin, und selber auch noch ein bisschen was dazuverdiene – natürlich nur aus Spaß – weil es mir doch unheimlich ist, mich mehr als 50 Jahre lang auf die 4%-Formel zu verlassen)?
Also, geh deinem Weg in die finanzielle Unabhängigkeit, und lass dich nicht unter Druck setzen.
Aber zurück zum Buch, mach dir wie immer ein eigenes Bild:
Alain de Botton, Statusangst (kein Affiliate-Link)
Der Film zum Buch
Alain de Botton hat auf Basis des Buchs einen Dokumentarfilm mit dem gleichen Titel gemacht. Im Buch stehen die einzelnen Teile der Analyse und der möglichen Lösungen sehr eigenständig. Mir hat beim Lesen ein ordnender Gesamtrahmen etwas gefehlt. Dafür enthält sich der Autor einer politischen Aussage, zumindest nach meinem Empfinden.
Der Film macht die einzelnen Themen durch aktuelle Beispiele noch anfassbarer, und bringt sie in eine zusammenhängende Erzählung. Aber auch die politische Message ist deutlich klarer. Deshalb fand ich den Film nicht redundant, sondern eine super-Ergänzung.
Alain de Botton, Status Anxiety (kein Affiliate-Link)
Katrin / Financial Independence Rocks.
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