Neulich ist mir bei bei Amazon eine Bewertung zu Gisela Enders Buch Finanzielle Freiheit – wie Menschen leben, die nicht mehr arbeiten müssen aufgefallen. (Falls du das Buch nicht kennst, hier ein Post, in dem ich es zusammengefasst habe). Die Rezensentin regte sich darüber auf, dass sie nicht die erwartete Anleitung zum Reich werden bekommen hatte. Das fand ich interessant, zumal ich selber auch lieber den Begriff “finanzielle Unabhängigkeit” benutze. (Was in diesem Fall aber wohl wenig Unterschied gemacht hätte, denn die Käuferin hat Gespräche mit Multimillionären erwartet…).
Also hab ich mir gedacht, ich nehm diesen Ideen-Cocktail mal auseinander. Mir hilft das, meine eigenen Gedanken zu ordnen. Und vielleicht ist es ja auch ein Denkanstoss für dich.
Die Bilder in unserem Kopf
Stell dir vor, du willst ein Mood Board zum Thema “Reichtum” erstellen.
Welche Art von Bildern würdest du spontan auswählen?
Eine große Villa? Dazu eine schicke Finca mit Infinity-Pool auf Mallorca für den Sommer und ein kuscheliges Chalet in den Alpen für den Winter? Neue Luxus-Autos und ein paar teure Oldtimer? Eine Yacht? Fröhliche Party-People, die um den Globus jetten? Würde dein Mood Board den Lebensstil der “Glamorous Rich” abbilden, der medial zur Schau gestellt wird?
Oder sehe ich auf deinem Mood Board ein Bündel Dollar-oder Euro-Scheine, dicke Aktienpakete und glänzende Goldmünzen? Eine große Fabrik? Einen Straßenzug Gründerzeit-Mietshäuser? Warren Buffett, Jeff Bezos oder andere erfolgreiche Unternehmer?
Vielleicht hat dein Mood Board aber auch einen ganz anderen Schwerpunkt, und statt Statussymbolen oder Assets sehe ich Weite und Natur – schroffe Berge, Strand und Wellen, grünes Laub und weichen Waldboden? Fröhliche Menschen um einen gedeckten Tisch im Sommergarten: spielende Kinder, lachende Erwachsene? Einen Mann, der mit seinem Hund tobt, und eine Katze, die zusammengerollt auf dem Sofa schläft?
Wer ist eigentlich “reich”?
Ich könnte mit all diesen Mood Boards etwas anfangen. Trotzdem lohnt es sich, noch mal einen Schritt zurück zu treten und genauer hinzuschauen. Denn dann entdeckt man die Unschärfe, die auch in der politischen Diskussion oft absichtlich übersehen oder unabsichtlich nicht geklärt wird. Wovon spreche ich? Dem Unterschied von Reichtum im Sinne von Vermögen – also der Akkumulation von Assets – und einer Idee von Reichtum, die sich aus einem hohen Einkommen ableitet.
Wenn man nur die materielle Ebene betrachtet, hat sich die Frage für mich nie gestellt: ich habe Reichtum immer mit dem Vorhandensein von Vermögen assoziiert, unabhängig davon, welchen Lebensstil eine materiell reiche Person pflegt. Da wäre ich also beim zweiten Mood Board. Aber reiche Leute können sich doch auch das Leben auf dem ersten Mood Board leisten?
Da wird’s wieder schwammig: Wie viel Vermögen braucht man denn, um reich zu sein? In Deutschland zählt man nach Angaben der Deutschen Bundesbank schon mit einem Vermögen deutlich unter einer Million Euro zu den reichsten 10 Prozent. Doch auch mit ein oder zwei Millionen Euro wird’s nichts mit dem Lifestyle der Glamorous Rich.
Einkommen oder Vermögen?
Villen, Ferienhäuser und Boote kosten Geld. Nicht nur bei der Anschaffung, sondern auch im laufenden Unterhalt. Es muss also ein entsprechendes Einkommen vorhanden sein. Du kennst die 4%-Formel. Nehmen wir die mal als grobe Richtgröße. Dann siehst du schnell, dass ein niedriges einstelliges Millionen-Vermögen keinen ausreichenden Cash-Flow abwirft.
Ist dann doch eher jemand mit einem hohen Einkommen reich? In Deutschland scheinen viele das so zu sehen: wenn du googlest “wann ist man reich”, findest du jede Menge Ergebnisse, die sich auf das Einkommen beziehen.
In den zugrunde liegenden Modellen wird Reichtum als Multiplier des Median-Einkommens definiert. Wessen Einkommen mehr als das Doppelte des aktuellen Medians beträgt, gilt als reich. Nach einer aktuellen Studie des Instituts der deutschen Wirtschaft fällt man als Single ab einem Netto-Einkommen von knapp 3.900 Euro netto in diese Kategorie. Sich davon einen Jet-Set-Lifestyle zu leisten, dürfte schwierig werden.
(Angeblich gibt’s unter Unternehmensberatern für diejenigen, die mit 50 ausgesorgt haben wollen, den Tipp “no second wife, no third home, no first boat”. Da’s für mich nicht immer politically correct sein muss, finde ich den Spruch ziemlich witzig, und für die meisten ziemlich wahr 😉 ).
Erst die Arbeit und dann
Wenn man sich näher mit dem Thema befasst, sieht man schnell, dass die typische Vorstellung vom Leben der Reichen sich nicht wirklich bei den Top 10 Prozent der Deutschen abspielt – egal ob nach Vermögen oder Einkommen betrachtet. Und auch für das Top 1 Prozent, dass sich solch ein Leben leisten kann, zeichnen klassische und soziale Medien ein verzerrtes Bild.
Klar, es gibt Rich Kids, die sich alles kaufen können, was sich kaufen läßt. Vielleicht gehören einige, die sich auf Instagram inszenieren, tatsächlich dazu. Für viele, die sich einen Status-Lifestyle in der auf dem ersten Mood Board abgebildeten Variante gönnen, sind Luxus-Autos, Winter in Kitzbühel und Sommer in Saint Tropez aber nur ein Lebensausschnitt, zumindest nach meiner Erfahrung.
Der Rest ihres Lebens besteht aus viel Arbeit und wenig Freizeit als Unternehmer oder Top Executive in einem großen Konzern. Entweder – in der positiven Variante – weil ihnen die Arbeit so viel Spaß macht, dass sie mit dem Arbeiten nicht aufhören möchten, selbst wenn sie könnten. Oder, weil sie in einer hoch vergüteten Position bleiben müssen, um die Verbindlichkeiten aus dem Lifestyle-Konstrukt zu bedienen, das sie sich aufgebaut haben. (Das gilt auch für die typischen Vertreter der “Glamorous Rich”: Filmstars, Sportler, Musiker…).
“Nicht mit den großen Hunden pinkeln”
Aber selbst jemand mit einem Gehalt, das für viele Menschen unvorstellbar hoch ist, kann den “Millionärs-Lebensstil” vom ersten Mood Board nicht automatisch nachhaltig bestreiten. Schwierig wird’s, wenn der oder diejenige in einem Umfeld von Vermögenderen “mithalten” will. Und finanziell halsbrecherisch, wenn dann noch die eigenen Assets aus Ungeduld oder für den Steuervorteil (zu) stark gehebelt und zu wenig diversifiziert sind. “Statusangst” kann in jeder sozialen Schicht zum Problem werden.
In diesem Zusammenhang ist die Geschichte von Thomas Middelhoff ein interessantes – und öffentlich bekanntes – Beispiel. Middelhoff wurde in der Dotcom-Zeit bei Bertelsmann als Top-Talent aufgebaut, relativ jung Vorstandsvorsitzender des Konzerns, und wechselte später zu Arcandor. Nach dem Ausscheiden dort fand “Big T’s” Karriere mit einer Verurteilung wegen Untreue und Steuerhinterziehung ein unrühmliches Ende.
Bei Mission Money gibt es ein sehenswertes Interview mit ihm. Dort spricht er die Ego-Fallen, in die er getappt ist, ehrlich an.
Das Ziel hinter dem Ziel
Und da schließt sich aus meiner Sicht der Kreis. Wie finanziell frei sind reiche Menschen, die in ihrem goldenen Hamsterrad weiter laufen müssen? Wenn reich, dann also richtig. Das dauert im Normalfall aber seine Zeit. Und von der hat jeder maximal gleich viel zur Verfügung. Und rein statistisch wird’s hintenraus weniger.
Ich würd mir also genau überlegen, was mein Ziel hinter der Idee “reich werden” ist. Ein gutes Leben – und darum geht es doch? – hat vielleicht weniger mit dem ersten Mood Board zu tun, als man im ersten Moment denken würde. Aber ganz viel mit dem dritten.
Um solch ein Leben zu führen, musst du weder reich sein, noch finanziell frei. Eine gewisse (finanzielle) Unabhängigkeit reicht, um dir Wahlmöglichkeiten zu eröffnen: Die Option, für eine Trekking-Tour drei Monate unbezahlten Urlaub zu nehmen. Die Möglichkeit, weniger zu arbeiten, während die Kinder klein sind, ohne später in die Altersarmut zu rutschen. Oder spontan dein aktuelles Projekt beiseite schieben zu können, weil es dir heute wichtiger ist, den vielleicht letzten Sommertag in diesem Jahr voll auszukosten.
Katrin / Financial Independence Rocks!
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