Personal Finance

Du musst raus

Mir ist neulich bei einer Suche auf Google Maps etwas bewusst geworden, das auf den zweiten Blick auch relevant für’s Thema Finanzen ist.

Google Maps und Finanzen? Wie bitte? Ja, genau…

 

Wo liegt eigentlich die Ostsee?

Ich bin in Flensburg geboren, und nach ein paar Jahren ist unsere Familie in die Nähe der Schlei gezogen. Muss man nicht kennen, wer trotzdem nachschauen will: obere rechte Ecke in Schleswig-Holstein.

Im Zusammenhang mit einem Immobilienangebot wollte ich mir die genaue Geo-Position eines Ortes in dieser Gegend anschauen. Und dabei ist mir aufgefallen, dass einige Dörfer, die ich von früher gut kenne, viel dichter an der Ostsee liegen, als ich dachte. Hört sich verrückt an, oder?

Wie kann ich die Orte gut kennen und so etwas nicht wissen? Meine Freunde wohnten dort, und ich war als Kind und Jugendliche oft an den Ostseestränden. Das hätte mir objektiv gesehen also eigentlich klar sein müssen.

 

Kinderkilometer, Erwachsenenkilometer

Wäre es vielleicht auch, wenn ich mir damals eine Landkarte genommen und die entsprechenden Strecken nachgemessen hätte. Mal davon abgesehen, dass das deutlich weniger komfortabel war als jetzt mit Google Maps – wäre ich überhaupt nicht darauf gekommen. Denn auf der Karte in meinem Kopf war alles völlig klar: wo wir wohnen, wo meine Freunde wohnen, und wo die Ostsee ist.

Bis neulich war mir nicht bewusst, wie stark die Kopf-Karte durch meine typischen Wegstrecken verzerrt war. Oder besser gesagt durch die Wege, die ich im Auto meiner Eltern oder im Bus “erfahren” habe. Von meinem Ausgangspunkt lag dann eben der Ort Z immer hinter den Orten X und Y, und hatte keinen räumlichen Zusammenhang mit der Ostsee.

Ausserdem hat sich meine Wahrnehmung zu Distanzen im Laufe der Zeit verändert: als Kind fand ich die Strecke von unserem Zuhause nach Flensburg lang. Das sind gut 30 Kilometer, für mich heute innerhalb von Hamburg eine ganz normale Entfernung. Und zu der Zeit, als ich wöchentlich zwei mal 500 Kilometer zwischen Hamburg und Köln gependelt bin, eine echte Kurzstrecke.

 

Seitenwechsel

Einen ähnlich neuen Blick habe ich bei Aufenthalten außerhalb von Deutschland bekommen. Besonders viel kann man beim Leben vor Ort mitnehmen. Ich bin ein Jahr auf eine High School in den amerikanischen Südstaaten gegangen, habe in Finland und Frankreich gearbeitet. Und – wenn nicht gerade Corona ist – sind wir regelmäßig in England, wo unser Sohn lebt, und in Ungarn.

Aber auch bei touristischen Reisen kannst du ja einfach mal darauf achten, was anders ist, als das, was wir von zuhause kennen: ein gutes Beispiel finde ich immer die Bauqualität und Ausstattung von typischen Wohnhäusern. Wer den deutschen Standard gewohnt ist, wird vielleicht überrascht sein, in europäischen Ländern mit höherem Haushaltsvermögen Leitungen auf Putz oder bröckelnde Fassaden anzutreffen. Oder sich wundern, wie in einer reichen Stadt wie New York Food Deserts möglich sind, innerstädtische Wohngebiete ohne Supermarkt-Versorgung.

Dich zumindest eine zeitlang außerhalb von Deutschland zu bewegen, ermöglicht dir auch den Einblick in andere Sichtweisen. Die muss man danach nicht teilen. Aber sie sind ein Anstoß, die eigenen Überzeugungen zu hinterfragen, und dazu zu lernen.

Und das bringt dich auch bei deinen Finanzen weiter.

 

Versuch die großen Zusammenhänge zu verstehen

Wenn du Altersvorsorge und Vermögensaufbau ernsthaft angehen willst, musst du über deinen aktuellen Kontostandort hinaus denken. Du musst dir ein Bild machen, wie sich dein Ausgabeverhalten kurz- und langfristig auswirkt. Vielleicht merkst du, wie stark dich Statusdenken bei deinen Kaufentscheidungen beeinflusst.

Wenn du die Macht des Zinseszinses verstehst, motiviert dich das vielleicht, einen Teil deines Gehalts in Vermögensaufbau zu investieren. Statt dich von gut gemachter Werbung oder deinem sozialen Umfeld mitreißen zu lassen, jeden verdienten Euro im Hier und Jetzt zu verkonsumieren. Denn du weißt, das passt zu den Koordinaten deines zukünftigen Ichs.

Und auch bei konkreten Investments sind die großen Zusammenhänge wichtig: Wie sind Chancen und Risiken zwischen Produktanbieter und Anleger verteilt? Wer hat welche Interessen? Wie erfolgreich sind Strategien im Durchschnitt, und (warum) glaube ich den Durchschnitt schlagen zu können? Basiert das auf substantiellen Kenntnissen? Oder halten meine Fähigkeiten einer objektiven Betrachtung genau so wenig Stand wie die gefühlten Entfernungen meiner Kindheit?

 

Analysis Paralysis

Die Fähigkeit zum Perspektiv-Wechsel kann dir außerdem helfen, wesentliches von unwesentlichem zu unterscheiden. Mir fallen in Blogkommentaren und Foren immer wieder Posts auf, in denen Investment-Anfänger eigentlich genau das richtige tun wollen: Regelmäßig einen überschaubaren Betrag in einen breit streuenden Welt-ETF investieren. Sie setzen dies aber nicht in die Tat um.

Weil sie den ETF mit den günstigsten Gebühren finden wollen. Den gibt es aber nicht beim günstigsten Sparplan-Anbieter. Ausserdem sind die Märkte schon so lange gut gelaufen, und vielleicht wäre es besser, erst beim nächsten Crash zu investieren. Crash ist dann aber auch schwierig, denn die Kurse könnten ja noch weiter fallen. Also doch lieber abwarten, bis die optimale Kombination aller Faktoren gegeben ist. Ich bin selber auch absolut nicht frei von Über-Optimierungs-Anfällen.

 

Nicht an Details festbeißen

Da ist es essentiell, wieder Abstand zwischen dich und die Details zu bringen. Und dir bewusst zu machen, was die kleinen und die großen Hebel für Investitionserfolg sind. Klar, Gebühren sind wichtig. Aber wenn ich eine Asset-Kategorie mit gutem Chance-Risiko-Verhältnis gefunden habe, und ein marktbreites, einfaches Produkt wie einen Welt-ETF, ist das Anfangen und Erfahrungen sammeln wichtiger.

Für welchen Anbieter du dich auf der Detailebene entscheidest, hat bei niedrigen investierten Beträgen wenig Auswirkungen auf deine Langfrist-Performance. Im Laufe der Zeit kannst du mit zusätzlichen Erfahrungen nachsteuern, umschichten und deine Asset-Diversifikation ausbauen. Selbst in den Depots langjähriger Investoren wirst du Positionen finden, die sie heute nicht mehr kaufen würden (oder sie haben solche Positionen zumindest eine zeitlang mitgeschleppt 😉 ).

 

Komm aus deiner Blase

Jemand, der mehr kennt als seinen Ort, seine Region, sein Land und die Weltanschauung seines direkten Umfelds läuft weniger Gefahr, psychologischen Verzerrungen zu erliegen, die seinen Investitionserfolg gefährden. Zum Beispiel dem Home Bias, der Verlockung, nur in Aktien des Heimatindexes zu investieren. In einem Land wie den USA mit einer breiten Marktkapitalisierung und etablierter Aktionärskultur ist dies weniger ein Problem. Als deutscher Anleger nur in DAX-Unternehmen zu investieren, ist aber zu schmalspurig.

Oder auch dem Confirmation Bias: unserer Neigung, nur das wahrzunehmen, was in unser vorhandenes Weltbild passt. Im ersten Moment fühlt es sich gut an, wenn meine Filter Bubble mir bestätigt, dass sich die Wirecard-Aktie auf jeden Fall wieder erholen wird. Aber besser wäre es, mental und emotional einen Schritt zurück zu treten, und zu versuchen, die Lage objektiv neu zu bewerten.

Wer sich auch mal einen Irrtum eingestehen kann und daraus lernt, erzielt langfristig bessere Ergebnisse. Und die wollen wir doch alle.

Financial Independence Rocks!

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