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Die 4%-Regel – und warum du sie mit Vorsicht genießen solltest

4%-Regel

Die 4%-Regel / Safe Withdrawal Rate (SWR) ist eines der Mantras der FIRE-Community.

Manchmal wird sie auch als „25x Expenses“ ausgedrückt. Oder du findest Bezeichnungen wie “Die Trinity Studie” oder “die Forschung von William Bengen”.

Um in die Details einzusteigen, gibt es eine sehr gute Übersicht zur Herkunft und Geschichte dieses Konzepts und ein Interview mit William Bengen  auf Early Retirement Dude’s Blog. Auf deutsch hat Oliver von frugalisten.de das Konzept in einer Serie von Posts erläutert.

Die Essenz dieses Konzepts ist folgende: Wenn du das 25-fache deiner jährlichen Ausgaben angespart hast, bist du finanziell unabhängig und kannst vorzeitig in den Ruhestand gehen, solange du nicht mehr als 4% deines Vermögens pro Jahr verbrauchst. Wissenschaftliche Basis hierfür sind die oben genannten Studien. Sie haben gezeigt, dass Rentner in der Vergangenheit bei Befolgen dieser Regel ihr Vermögen während ihrer Lebenszeit nicht verbraucht hätten – egal, ob sie während eines Booms oder einer Rezession in den Ruhestand gegangen sind.

 

Einfach zu verstehen und umzusetzen

Dieses Konzept ist so eingängig, weil es auf den ersten Blick sehr einfach zu verstehen und umzusetzen ist. Was es nach meinem Eindruck gerade in der FIRE-Community besonders attraktiv macht, ist die Tatsache, dass die 4%-Regel tendenziell zu einem relativ niedrigen Zielvermögen – deiner individuellen „FIRE-number“ – für den finanziell unabhängigen Ruhestand führt. Die Mainstream-Finanzberatung empfiehlt meistens Multiplikatoren deines aktuellen (Brutto)-Einkommens, um dann die „Renten-Lücke“ zu berechnen. Dies führt in der Regel zu einem viel größeren Betrag, der angespart/investiert werden muss, bevor du aufhören kannst, ein Arbeitseinkommen zu beziehen.

Wenn du jetzt überschlägig deine eigenen jährlichen Ausgaben mit 25 multiplizierst kommt trotzdem eine hohe „FIRE-Number“ heraus? Das kann natürlich sein, denn hier kommt die besondere Zusammensetzung der FIRE-Community ins Spiel. In den entsprechenden Blogs und Foren scheinen sich überproportional stark Berufs- und Persönlichkeitstypen zu tummeln, wie z.B. (Software)-Ingenieure, die überdurchschnittliche Einkommen erzielen, aber weniger dazu neigen, sich über Statussymbole zu definieren oder sich mit Konsum zu belohnen als andere Menschen mit ähnlich hohen Einkommen.

 

Überdurchschnittliches Einkommen + unterdurchschnittliche Ausgaben = sehr hohe Sparquoten

Ich will damit nicht sagen, dass es keine Durchschnittsverdiener gibt, die FIRE anstreben. Die gibt es auch. Aber es gibt normalerweise ein Basisniveau an Ausgaben, das man schwer weiter senken kann, besonders wenn man kein junger Single mehr ist. Daher korrelieren sehr hohe Sparquoten zumindest teilweise mit überdurchschnittlichen Einkommen.

Die Kombination aus überdurchschnittlichem Einkommen und unterdurchschnittlichen Ausgaben führt zu Sparquoten von mehr als 50, 60 oder sogar 70 Prozent. Und die FIRE-Logik ist: Je höher die Sparquote, desto früher hast du dein Zielvermögen aufgebaut und desto früher kannst du in den Ruhestand gehen. Mr Money Moustache, einer der bekanntesten FIRE-Blogger, hat dies die „Shockingly Simple Math behind Early Retirement“ genannt . Du musst nur deine – optimalerweise niedrigen – jährlichen Ausgaben kennen, sie mit 25 multiplizieren, kontinuierlich in den Aktienmarkt investieren, und schon kannst du dein Berufsleben in deinen 30ern beenden. So weit, so gut.

 

Der Teufel steckt im Detail

Ganz so einfach ist es dann aber vielleicht doch nicht. Ich finde die Einstellung der “Millionäre von nebenan”, auf Status- und unnötigen Konsum zu verzichten, komplett richtig. Du musst nicht über Konsum mit anderen „mithalten“. Wer reich aussieht, hat vielleicht hohe Schulden und muss bis 70 oder länger arbeiten. Also sei selbstbewusst, mach es wie du es für richtig hältst, und investiere in deine finanzielle Unabhängigkeit.

Trotzdem solltest du die 4%-Regel mit einiger Vorsicht betrachten. Du musst sicher stellen, dass du genau verstehst, in wie weit sie sich auf deine Umstände anwenden lässt. Hier nur ein paar Hinweise:

  1. Die 4%-Regel basiert auf Portfolios mit einem Mix aus Aktien- und Anleihen. Dies ist wichtig, da implizit angenommen wird, dass das Wachstum des Portfolios bei historisch durchschnittlichen Renditen hoch genug ist, um die Inflation abzudecken. Daher kann das Zielvermögen berechnet werden, indem du deine Ausgaben zu aktuellen Preisen mit 25 multiplizierst. Wenn deine Einkommensströme aus anderen Anlagen kommen sollen, du in der Zukunft unterdurchschnittliche Aktienmarktrenditen oder Kostensteigerungen oberhalb der Inflationsrate erwartest (z.B. Krankenkasse oder Medikamente), musst du dies bei der Prognose deines Zielvermögens berücksichtigen.
  2. Die ursprüngliche Studie von William Bangen wurde mit der Prämisse erstellt, dass das Portfolio mindestens 30 Jahre überleben sollte. Abhängig vom Alter, in dem du aufhören möchtest zu arbeiten, kann die Zeitspanne erheblich höher sein. Es gibt neuere Simulationen, die das Überleben des Portfolios auch für längere Zeiträume prognostizieren. Aber je länger in die Zukunft du deine Ausgaben schätzen musst, desto schwieriger wird die Vorhersage.
  3. Es ist eine US-Studie. Du hast möglicherweise nicht nur in US-Aktien und Anleihen investiert. Selbst wenn du das hast, aber nicht in den USA lebst, besteht ein Währungsrisiko.
  4. Es gibt ein steuerliches Element. Das ist kein integraler Bestandteil des Modells an sich, aber sowohl im Aufbau des Zielvermögens als auch bei der späteren Entnahme kann sich die Besteuerung von den Gegebenheiten in den USA unterscheiden. So werden z.B. bei aktueller Rechtslage Gewinne auf Aktien / ETFs, die jemand in den USA über einen Roth IRA anspart oder dorthin umschichtet, NIE auf US-Bundesebene besteuert, während du in Deutschland IMMER Steuern auf Dividenden und Gewinne aus Aktienverkäufen zahlst.
  5. Sequence-of-Returns-Risk (SOR). Dies beschreibt das Risiko, dass dein Portfolio zwar theoretisch bei durchschnittlicher Rendite überleben würde, aber in der Praxis der Start deines „Ruhestands“ genau in eine Rezession/einen Bärenmarkt fällt. Bei stetiger Entnahme der “sicheren” 4% besteht in diesem Fall die Gefahr, dass sich das Portfolio nicht mehr genug erholen kann, um tatsächlich bis an dein Lebensende auszureichen. Dies Risiko wird in der FIRE-Community auch gesehen. Mach dich am besten mit den verschiedenen Lösungen für diese Problematik vertraut. Du kannst zum Beispiel einen Cash Pool für die ersten Jahre des Ruhestands aufbauen oder deine Ausgaben mit so viel Spielraum kalkulieren, dass du sie in einer Rezession weiter absenken kannst. Überleg, was du überzeugend und auf deine eigene Situation anwendbar findest.

Diese Liste ist nicht notwendigerweise vollständig. Wenn ich etwas übersehen habe, das du für wichtig hältst, lass es mich gerne wissen.

 

Wasser predigen und Wein trinken?

Es gibt eine Sache, die mich zunehmend stört, wenn ich mir die unkritische Haltung vieler „FIRE-Jünger“ gegenüber der 4%-Regel anschaue. Und Bloggern wie Tanja, die auf OurNextLife.com schreibt, scheint es ähnlich zu gehen: Praktisch keiner der bekannten FIRE-Blogger und Vorbilder, die die Unfehlbarkeit des „spar-einfach-das-25fache-deiner-Ausgaben-und-geh-in-Rente-Ansatzes predigen, lebt aktuell tatsächlich vollständig von 4%-Entnahmen aus seinem Vermögen.

Mir geht es nicht darum, ob diese Blogger tatsächlich „im Ruhestand“ sind, was oft von der „Internet Retirement Police“ moniert wird. Es geht darum, wie sie ihre Lebenshaltungskosten decken. In einigen Fällen erzielt der Blog zusätzliche Einnahmen, oder hat sich zu einem richtigen Business entwickelt. Oder ein Ehepartner arbeitet noch angestellt, und die ganze Familie ist über den Arbeitgeber krankenversichert.

Hinzu kommt der ungewöhnlich lange Bullenmarkt. Dieser hat bei vielen der US-FIRE-Blogger inzwischen zu einem deutlich höheren Netto-Vermögen geführt, als ursprünglich auf Basis der 4%-Regel kalkuliert – sozusagen ein untypischer Sequence-of-Return-Vorteil.

Ich gönne jedem, wenn es so läuft. Aber ich propagiere auch nicht, dass man sich entspannt mit 30 zur Ruhe setzen kann, wenn man einfach der 4%-Regel folgt. Niemand sollte hier einer Illusion erliegen. Ich finde es beunruhigend, wie hitzig Kommentare werden können, wenn jemand die Auffassung vertritt, dass das FIRE-Konzept in einigen Punkten zu vereinfacht sein könnte.

 

Zieh deine eigenen Schlüsse

Also, glaub nicht blind an die 4%-Regel. Vergewissere dich, dass du die Implikationen verstehst, und nimm das Konzept einfach als Ausgangspunkt. Pass es an deine individuelle Situation an und entwickle deine eigene Financial-Independence-Strategie und zeitliche Planung. Und um dich ein bisschen zu inspirieren, schreibe ich in einem meiner nächsten Posts darüber, wie ich meinen eigenen Plan für die finanzielle Unabhängigkeit entwickelt habe.

Katrin / Financial Independence Rocks.

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2 Comments

  • Reply
    BlueEyes
    February 21, 2020 at 10:57 am

    Vielleicht ist es besser zu wissen, man KÖNNTE vollständig in den Ruhestand gehen, fährt aber stattdessen seine Arbeitszeit durch Teilzeit, sofern der Arbeitgeber mitspielt, runter.
    Ich persönlich könnte, solange der Beruf noch Spaß macht, auch mit einem oder zweiten Arbeitstagen/ Woche entspannt leben.

    • Reply
      Financial Independence Rocks!
      February 21, 2020 at 11:01 am

      Hallo BlueEyes,

      vielen Dank für Deinen Kommentar. Sehe ich genau so. Und um so besser, wenn der Job weiterhin Spaß macht.

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