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Anekdote zur Senkung der Arbeitsmoral

Zum Wochenende mal wieder ein Post für die Rubrik “The Good Life”. Vielleicht kennst du die Geschichte vom amerikanischen Geschäftsmann und dem mexikanischen Fischer. Die schwirrt ja in der FIRE- und Frugalisten-Community herum, und sie taucht auch in Robert Wringham’s Escape Everything auf.

Aber wusstest du auch, dass diese Geschichte eigentlich ein deutsches Original hat? Und zwar geschrieben von einem der bedeutendsten deutschen Schriftsteller der Nachkriegszeit, Heinrich Böll. Ich war total überrascht, als ich das herausgefunden habe.

Im Original ist der Fischer auch nicht mexikanisch, vielleicht auch ein bisschen weniger idealisiert als in der amerikanischen Variante, und die Geschichte stammt aus den 1960er-Jahren. Heinrich Böll hat sie für eine Sendung des Norddeutschen Rundfunks zum Tag der Arbeit am 1. Mail 1963 geschrieben. (Auch krass: ein bekannter Schriftsteller schreibt eine Kurzgeschichte speziell für einen Regionalsender. Das kann ich mir heute gar nicht mehr vorstellen, oder gibt es sowas doch noch?).

Die Geschichte geht folgendermaßen:

In einer Hafenstadt im Westen Europas trifft ein Tourist mit einer Kamera auf einen ärmlich gekleideten Fischer, der in seinem Boot döst. Der schick gekleidete Tourist erkennt die Möglichkeit für tolle Urlaubsbilder – der blaue Himmel, die weißen Wellenkämme, der pittoreske Fischer mit seiner roten Mütze – und legt einen neuen Farbfilm ein. Wenn er wie heute ein Smartphone dabei gehabt hätte und keine Kamera, wäre die Geschichte vielleicht schon hier zu Ende gewesen: er hätte ein paar Bilder gemacht und der Fischer hätte weitergeschlafen.

Aber wir sind ja in der pre-Instagram-Ära, und das Klicken der Kamera weckt den Fischer auf. Und da die Geschichte in einer Zeit spielt, als Rauchen gang und gäbe war, geht sein erster Griff zu seiner Zigarettenschachtel. Doch der Tourist kommt ihm zuvor, und bietet ihm eine seiner eigenen Zigaretten an, ja man könnte den Eindruck bekommen, er drängt sich fast auf. So ist die Situation ein wenig angespannt, und der Tourist bemüht sich dies zu überbrücken, in dem er ein Gespräch mit dem Fischer beginnt. 

Der Fischer werde heute sicher einen guten Fang machen, vermutet der Tourist. Der Fischer schüttelt den Kopf. Aber das Wetter solle doch gut sein, habe man ihm versichert, schiebt der Tourist hinterher. Der Fischer nickt. Jetzt hat der Tourist verstanden: “Sie werden also nicht hinausfahren?”. Wieder schüttelt der Fischer den Kopf.

Der Tourist erscheint zunehmend irritiert. Der Fischer muss doch hinausfahren, vom Fischen bestreitet er doch seinen Lebensunterhalt? Vielleicht ist er krank? Aber nein, der Fischer geht jetzt von der Kopfgestik zum gesprochenen Wort über und versichert dem Touristen, dass es ihm phantastisch gehe, er habe sich nie besser gefühlt.

Ja aber: WARUM FÄHRT ER DANN IN GOTTES NAMEN NICHT HINAUS? Der Tourist fragt natürlich höflich nach, und schreit nicht, auch von Gott ist nicht die Rede. Aber die obere Beschreibung entspricht seinem inneren Dialog wahrscheinlich gut. Doch es gibt eine ganz einfache Erklärung: der Fischer ist schon am Morgen aufs Meer gefahren, und sein Fang war sehr gut. Daher muss er heute keine zweite Fahrt machen. Tatsächlich war sein Fang sogar so gut, dass er auch am nächsten und übernächsten Tag nicht wird hinausfahren müssen, wie er dem Touristen erklärt, der ja um sein Wohl besorgt zu sein scheint.

Aber der Tourist ist nicht beruhigt. Die beiden sind sich jetzt näher, der Tourist akzeptiert die Zigarette, die ihm nun der Fischer anbietet, setzt sich zu ihm und legt die Kamera weg. Er will sich ja nicht in die Angelegenheiten des Fischers einmischen, aber etwas MUSS ER DOCH LOSWERDEN.

Wenn der Fang doch heute so gut war, könnte der Fischer doch noch viel mehr fangen, wenn er noch einmal hinausführe. Oder noch ein drittes und viertes Mal. Was für Mengen da zusammen kämen.

Der Fischer nickt.

Und wenn man das mal weiter denkt, er würde jeden Tag drei, vier Mal hinausfahren, ist ihm klar, was das bedeuten würde?

Der Fischer schüttelt den Kopf.

Jetzt sprudelt es aus dem Touristen heraus: Der Fischer würde so viel fangen, dass er sich in einem Jahr einen Motor für sein Boot leisten könnte. Dann einen Kutter. Dann zwei. Ein Kühlhaus, eine Räucherei, eine Marinadefabrik. Er würde mit einem Hubschrauber herumfliegen, die Fischschwärme ausmachen, seiner Flotte per Funk Anweisungen geben. Weitere Fangrechte erwerben, ein Restaurant eröffnen, Hummer nach Paris exportieren – kurz, ein komplettes Fisch-Imperium aufbauen. (Ich frag mich gerade, ob Jürgen Gosch aus Sylt diese Anekdote damals im NDR gehört hat :-)).

Und dann, setzt der Tourist an: – aber es verschlägt ihm angesichts so viel ungenutzten Potentials die Sprache. Jetzt will der Fischer aber auch wissen, was dann wäre. 

Der Tourist hat sich gefangen und sagt voller Begeisterung für die Idee:”Dann könnten Sie beruhigt hier im Hafen sitzen, in der Sonne dösen und auf das herrliche Meer blicken.”

Weil wir natürlich schlauer sind, als der schicke Tourist wissen wir schon, was der Fischer logischerweise hierauf erwidert: Genau das, was der Tourist ihm als die ultimativ erstrebenswerte  Endstufe vormalt, um es mal mit den Geissens zu sagen, macht er doch schon. Und zwar schon jetzt, nicht erst in x Jahren. Das einzige, was ihn in diesem Moment davon abgehalten hat, war das Klicken der Kamera.

Im Gegensatz zur amerikanischen Version, die ich kenne, hat der Tourist in Bölls Original verstanden: er zieht nicht besserwisserisch von dannen, sondern macht sich Gedanken darüber, ob er eigentlich auch nur arbeitet, um eines Tages nicht mehr arbeiten zu müssen. Sein ursprüngliches Mitleid mit dem ärmlichen Fischer ist verschwunden. Was bleibt, ist ein klein bisschen Neid.

Diese Geschichte ist natürlich bei vielen beliebt, die sich aus einem beruflichen Hamsterrad hinauswünschen. Und wenn man mal den Aufbau des Unternehmensimperiums weglässt, hat auch die FIRE-Idee gewisse Parallelen mit dem Vorschlag des Touristen: eine zeitlang sehr viel arbeiten, und vielleicht auch auf einiges oder vieles zu verzichten, um dann das Leben genießen zu können.

Ich bin ja bekanntermaßen auch Fan davon, unter den eigenen Möglichkeiten zu leben und Rücklagen für die Zukunft zu bilden. Die “von-der-Hand-in-den-Mund”-Lebensphilosophie des Fischers wird für die meisten heutzutage nicht funktionieren, und ich würde sie auch niemandem empfehlen.

Aber die Moral, die ich aus der Geschichte ziehe, ist zu erkennen was genug, und was dir wirklich wichtig ist, und das Leben JETZT zu genießen.

Wenn das gleichzeitig mit dem Plan funktioniert, seinen Lebensunterhalt nicht mehr durch angestellte, oder überhaupt durch entlohnte Arbeit zu verdienen, wenn man es nicht mehr möchte – super. Aber du musst auch auf dem Weg dahin Spaß haben.

Hier findest du eine Kopie des Originaltextes (in der Annahme, dass das Urheberrecht/Copyright berücksichtigt wurde).

Katrin / Financial Independence Rocks.

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